Der Einsatz von Pestiziden in deutschen Staatswäldern ist laut Panorama-Recherchen massiv gestiegen. Das Umweltbundesamt sieht das mit Sorge, denn die Folgen für Populationen gefährdeter Waldinsekten und für Vögel sind unklar.
In Deutschland ist der Einsatz von Pestiziden in den staatlichen Wäldern der Bundesländer massiv gestiegen. Das zeigt eine exklusive Recherche des ARD-Magazins Panorama. Besonders in Niedersachsen, Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt und Hessen wurde deutlich mehr gespritzt als in der Vergangenheit.
2013 wurden in Niedersachen etwa nur knapp drei Prozent aller geschlagenen Hölzer gespritzt, 2019 waren es mehr als 41 Prozent. Das Umweltbundesamt (UBA) sieht den gestiegenen Einsatz kritisch: „Wälder sind empfindliche Ökosysteme, und wenn man dort mit sehr starken Giften agiert, dann muss man mit Schäden rechnen, die einmal an Insekten entstehen, aber auch in der Nahrungskette weiter hoch gehen“, sagt Jörn Wogram, Leiter des Fachbereichs Pflanzenschutzmittel beim UBA: „Denn von den Insekten leben ja wiederum beispielsweise Fledermäuse oder Vögel.“
Der Handel mit illegalen Pestiziden boomt: Das Risiko, erwischt zu werden, ist gering – der Profit hoch.
Gründe für den nun gestiegenen Gifteinsatz sind Schädlinge wie der Borkenkäfer, die sich durch trockene Sommer, auf Holzverkauf getrimmte Forstwirtschaft und Monokulturen rasant ausbreiten. Doch es gäbe Alternativen – und der Beitrag der Pestizide zum Insektensterben ist noch völlig ungeklärt.
Gespritzt wird insbesondere „Karate Forst Flüssig“, ein Breitband-Insektizid gegen Borkenkäfer des chinesisch-schweizerischen Konzerns Syngenta. Es wird auf im Wald gelagerte Baumstämme gesprüht, die auch von vielen anderen Insekten aufgesucht werden. Das Umweltbundesamt warnt davor, dass auch geschützte Arten sterben können, sogar wenn sie sich nur kurz auf die behandelten Stämme setzen. „Das Holz wird aber durch diese Behandlung natürlich giftig. Man weiß das aus Versuchen: Schmetterlinge, Libellen und andere Arten, auch Käfer, die im Wald leben, aber keine Schadorganismen sind, sind oft todgeweiht“, so Wogram.
In der Biolandwirtschaft verbotene Pestizide belasten die Ernten mancher Betriebe.
Die Folgen dieser Breitbandwirkung auf die Insektenpopulationen im Wald ist bisher noch nicht vollständig erforscht und könnte zum viel beklagten Insektensterben beitragen.
Bei der Erstzulassung von „Karate Forst Flüssig“ war die Frage nach Insektensterben noch nicht maßgeblich relevant, außerdem liegen mittlerweile neue Erkenntnisse über die Wirkung des Gifts in Gewässern vor. Als 2020 die routinemäßige Überprüfung der Zulassung anstand, gab das Umweltbundesamt deshalb dem Hersteller die Möglichkeit, aussagekräftige Studien nachzureichen. Doch Syngenta habe nicht geliefert. „Wir hatten für die Einreichung dieser Daten das Jahr 2020 vorgesehen“, erläutert Jörn Wogram vom Umweltbundesamt.
Syngenta nennt auch auf Anfrage keinen konkreten Termin für die Veröffentlichung: „Syngenta hat mit den Zulassungsbehörden Modellversuche zur Untersuchung von Nebeneffekten vereinbart, deren Ergebnisse derzeit bewertet werden. Gravierende negative Auswirkungen sind in Anbetracht der sehr gezielten und kleinräumigen Anwendung nicht zu erwarten.“
Ursachen für das Artensterben sind laut „Insektenatlas“: fehlender Lebensraum, fehlende Nahrung und Pestizide.
Trotz der fehlenden Studien erlaubten die Behörden, darunter das UBA, aber insbesondere das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL), dass „Karate Forst Flüssig“ auch in diesem Jahr in den Wäldern versprüht werden darf. Das BVL untersteht dem Landwirtschaftsministerium von Julia Klöckner und setzte sich beim Umweltbundesamt dafür ein, dass man es offenbar mit den geforderten Studien nicht allzu genau nehmen solle.
Panorama liegt ein internes Schreiben vor, in dem der Präsident des Bundesamts für Verbraucherschutz, Friedel Cramer, an das Umweltbundesamt schrieb, die Forderung nach den Studien sende „das falsche Signal zur falschen Zeit“. In dem an den UBA-Chef gerichteten Brief heißt es weiter: „Ich bitte Sie nachdrücklich […] die Verhältnismäßigkeit der geforderten zusätzlichen Informationen […] abzuwägen.“
Auf Nachfrage von Panorama betont das Bundesamt für Verbraucherschutz, dass bestehende EU-Vorgaben für Zulassungen auch für den Wald ausreichend seien. „Zusätzliche nationale Anforderungen müssen daher kritisch hinterfragt werden.“ Und weiter: „Das BVL erachtet hingegen ein zulassungsbegleitendes Monitoring für verhältnismäßig und deutlich zielführender.“
Pestizideinsatz in Naturschutzgebieten – in vielen Bundesländern ist das erlaubt.
Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner nimmt das BVL in Schutz. Es sei ganz klar, „dass das BVL auch immer auf Folgewirkungen und auf Kollateralwirkungen Wert legt“, sagte die CDU-Politikerin. Der Einsatz von Pestiziden sei alternativlos. „Wenn Bäume befallen werden und Bäume absterben, dann werden wir ein ganz großes Problem bekommen. Und deshalb müssen wir kurzfristig helfen können, dass unser Wald Bestand hat.“
Dabei würde es oft völlig ausreichen, vom Borkenkäfer befallene Bäume mehr als 500 Meter vom Wald weg zu transportieren. Weiter fliegen die geschlechtsreifen Käfer nämlich nicht und könnten dann auch keine neuen Bäume befallen, Pestizide wären überflüssig. Doch Umweltverbände wie der BUND kritisieren, dass die notwendigen Kapazitäten für Abtransport und Lagerung in den letzten Jahren nicht aufgebaut worden seien und mehr kosteten als das Spritzen mit Pestiziden. So sei wieder mal der Profit vor die Ökologie gestellt worden.
Dass die Idee funktionieren kann, zeigt Rheinland-Pfalz. Dort wurde trotz Borkenkäferbefalls 2019 und 2020 kein Pestizid im Landeswald eingesetzt. Vor allem durch den „Abtransport oder Entrindung frisch befallener Baumstämme“, schreibt das Forstministerium auf Nachfrage.
Über dieses Thema berichtet das Erste in der Sendung "Panorama" am 10. Juni 2021 um 21:45 Uhr.
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